In der Literatur-Sammlung zum Rattenfänger befinden sich auch einige Belegexemplare auf Russisch, Foto: Museum Hameln. 

von Katharina Birjukow, Bad Oeynhausen

Bei den Recherchen zur Rattenfänger-Sage in russischer Sprache hatte ich anfänglich den Fundus des Hamelner Museums als Quelle. Während ich aus den verschiedenen Büchern meine eigene Erzähl-Version der Sage zusammenschrieb, ist mir aufgefallen, dass es scheinbar keine eigenständige Tradition der Sage in russischer Sprache gibt. Die Bilderbücher sind wirklich sehr schön, die Texte darin allerdings alle aus dem Englischen, Französischen und Deutschen übersetzt und zum Teil stark gekürzt. Also habe ich meine Suche auf das Internet ausgeweitet. Und wurde förmlich erschlagen!

Im Russischen existieren nicht nur die Übersetzungen der „Original“-Sage. Seit über hundert Jahren beschäftigen sich russische Musiker, Lyriker und Schriftsteller aller Genres mit der Sage und verarbeiten sie auf unterschiedlichste Weise in ihren Werken.

So schrieb Waleri Brjussow, russischer Schriftsteller und Dichter des Symbolismus, bereits 1904 ein Gedicht mit dem Namen „Krisolov“, was im Russischen „Rattenfänger“ bedeutet. Sein Rattenfänger ist ein Flöte spielender Verliebter, der das Herz eines jungen Mädchens erobern will.

Sergei W. Rachamninow vertonte 1916 Waleri Brjussows Gedicht „Der Rattenfänger“. Hier gesungen von Tatiana Konstantinova.

Wenig später setzt sich die Dichterin Marina Zwetaewa mit dem Stoff auseinander. Sie gehört zu den bedeutendsten russischen Literaten des 20. Jahrhunderts. 1921 schreibt sie das Poem „Der Rattenfänger“. Sie nennt ihr Werk eine „Lyrische Satire“, benutzt es aber als Gesellschaftskritik und rechnet mit dem übersättigten Bürgertum ab. Im letzten Kapitel „Das Kinderparadies“ lässt sie, sehr eindrucksvoll und bewegend, die Kinder in die Weser gehen.

Der Rattenfänger in der gleichnamigen Novelle von Alexander Grin aus dem Jahr 1924 ist ein betagter Professor. Im von Hunger und Typhus geplagtem St. Petersburg der 1920er Jahre präsentiert er stolz eine riesengroße fette besonders aggressive und gefährliche Ratte, die ihm in die Falle gegangen ist.

Entsprechend leicht und fröhlich klingt die Vertonung des Gedichts durch Sergej W. Rachmaninow. 1916 arrangierte er es als Lied. „Krisolov“ ist als Nummer 4 Teil des Lieder-Zyklusses Opus 38. Er besteht  aus den Vertonungen sechs romantischer Gedichte. Zu Brjussows Gedicht in deutscher Übersetzung geht es hier entlang.

Die bekannte russische Schriftstellerin Marina Zwetajewa um 1925, Foto: wikimedia commons.

Es gibt so viele Werke, die sich mit der Thematik befassen, dass es unmöglich ist, hier alle aufzuzählen. Es gibt zauberhafte Flöten, genetische Mutationen, Auseinandersetzungen mit der Geschichte Russlands, die Suche nach einer besseren Welt und, ganz frisch aus dem Jahr 2015, einen Krimi mit einem Serienmörder.

Aber auch Musiker beschäftigen sich aktiv mit dem Thema. 1968 singt die populäre und immer noch aktive Sängerin Alla Pugatschowa ihr Lied „Krisolov“.

Aktuell ist auch die Anti-Alkohol-Kampagne, in der der Rattenfänger als Allegorie der Alkohol-Sucht bzw. des Verführers dargestellt wird.

Mein persönliches musikalisches Lieblingsstück ist das Lied „Rattenfänger“ von Timur Shaow. Verpackt in eine eingängige Melodie äußert der Sänger Hoffnung, dass endlich der Rattenfänger kommt und das ganze Establishment und den Abschaum aus dem Land weit in den Osten führt, weit hinter den Ural, in das Ochotische Meer. Und möge Poseidon sich mit dem ganzen menschlichen Müll, mit den Zuhältern, Verbrechern und Lügnern, herumschlagen.

 

1986 singt die bekannte russische Sängerin Alla Pugatschowa ihr Lied Krisolov. Zum Songtext geht es hier entlang.

Trailer einer russischen Anti-Alkohol-Kampagne.

Wie andere vor ihm interpretiert auch der russische Sänger Timur Shaow den Rattenfänger als eine Art Erlöser-Figur.
Viele weitere Künstler von Pop über Punk bis Heavy Metal erzählen ihre Version der Sage – mal aus der Sicht der Ratte, mal aus der Sicht des Kindes oder der verzweifelten Eltern.

Auch Film und Fernsehen haben das Thema aufgegriffen. Auf YouTube sind Zeichentrickfilme und vertonte Diafilme zu finden, in denen der Grimm’sche Text mit Bildern unterlegt ist. Die Novelle von Alexander Grin wurde verfilmt und der Krimi von Elena Michalkowa erschien als Serie.