Projekt-Teilnehmerin Elke Struck stellt sich vor
„ Der Rattenfänger ist krank!“
Wie bitte?
Ich war zum ersten Mal in meiner neuen Schule in Hameln, wo wir während der Sommerferien aus Flensburg hingezogen waren, und wollte zum Schulleiter. Die Schule befand sich zum Teil noch im Rohbau, ein zukünftiger Flügel war mit dicken Plastikbahnen abgetrennt, konnte aber dennoch kaum gegen den Bauschutt und schon gar nicht gegen den Lärm schützen, und ich hatte mich mühsam zum Sekretariat durchfragen müssen.
Und nun das als Antwort auf meine arglose Frage, ob ich den Schulleiter sprechen könnte: „Der Rattenfänger ist krank.“ Zukünftige Kollegen, die sich ebenfalls bis ins Sekretariat vorgekämpft hatten, schienen das für eine ganz selbstverständliche und plausible Antwort zu halten. Hatte die Sekretärin mich wegen dem Baulärm nicht gehört? Sprach sie mit jemand anderem? Hatte ich etwas Mißverständliches gefragt? Jemand, der meinen total verwirrten Gesichtsausdruck wahrgenommen haben mußte, erbarmte sich und sagte lachend:
„Der Schulleiter ist doch auch der Leiter der Rattenfängerspielschar. Und da ist nun der Hauptdarsteller erkrankt und das Telefon läuft schon eine Weile heiß, um Ersatz zu finden.“
In Süddeutschland groß geworden, kannte ich zwar die Rattenfängersage, hatte aber bis zu unserem Umzug nach Hameln immer angenommen, „Hameln“ sei wie die ganze Sage ein märchenhafter Name und die Stadt selbst gäbe es genau so wenig wie das Schlaraffenland oder Schilda.
Und nun hatten sie offenbar auch noch einen lebendigen Rattenfänger!
Damals wußte ich noch nicht, daß spätere Rattenfänger meine Schüler werden sollten und meine noch ungeborene Tochter in der Rattenfängerspielschar eine steile Karriere bevorstand, indem sie sich von einem Rattenkind über eine Bürgerstochter bis zu einer Sprechrolle von einem Satz („Für so ein bißchen Flötenspiel?“) hocharbeiten würde. Und daß mein Schulleiter jeden Sonntag als Bürgermeister der Stadt auftreten würde. Und mich der Rattenfänger ein Leben lang begleiten würde.
Als ich die Schule wieder verließ, kamen mir schnaufend und erschöpft schwer tragende Möbelpacker entgegen und fragten: „Wo soll denn hier der Flügel hin?“
Rattenfängerspiel 1959, Laienspielgruppe mit Spielleiter Friedrich Flügge (Mitte) vor der Münsterkirche, Foto: Stadtarchiv Hameln, Best. 602 – D Nr. 84-1.
Anmerkung der Redaktion: Elke Struck interessiert sich als begeisterte Historikerin besonders für den historischen Kern der Rattenfänger-Sage. Sie ist eine glühende Anhängerin der Migrationstheorie, mit der sie sich während der Projekt-Treffen vornehmlich beschäftigt.